Wer die letzten paar Monate auf X unterwegs war, konnte nicht einfach übersehen, dass der Algorithmus einen Haufen Inhalte ausspielte, die nur als Unterstützung von Trump im US-Wahlkampf gelesen werden konnten. Allerdings gibt es für die Ansicht der Timeline zwei Reiter: “Following” zeigt nur Inhalte von Accounts, denen ich auch selbst folge. Wenn ich diesen Tab anwähle, sehe ich nur Postings aus dem, von mir kuratierten Netzwerk (aka Filterblase).
Der Beschwerde über die Grauslichkeit von X kann sich also immer nur auf diese bewusst gewählte oder beibehaltene Einstellung “For You” beziehen, sich von der Plattform einen Feed zusammenstellen zu lassen. Die Texte schreiben naturgemäß auch die Nutzer selbst und nicht Elon Musk und Donald Trump.
Natürlich, es gibt dann es noch einen Haufen Users, die ganz ungefragt mit einem interagieren und dabei alle Manieren vergessen oder nicht einmal vergessen können. Die Replies und Erwähnungen reichen von subtilen Untergriffigkeiten, Sophismus, Ad hominem bis zu blanken Beschimpfungen – ganz unabhängig von Formalbildung und ideologischer Grundverortung. Der Wunsch den Algorithmus und diesen Dreck hinter sich zu lassen, ist auch verständlich. Wenn man dann aber geschlossen aus X abzieht und sich mit dem Auraspray der moralischen Abgehobenheit immunisieren will, den der #oeXit der letzten Tage begleitet hat, dann wirkt das auf jene, die den menschlichen Abgründen etwas gelassener gegenüberstehen, gerne auch Bluesky probieren oder gar unterstützen, eher abstoßend. Aber das merken die “Helden des Rückzugs” ja nicht einmal.
Am Ende wird es egal sein. Die Plattform können wir wechseln, durchsetzen wird sich dauerhaft wohl nur eine. Die Menschen bleiben die gleichen.
Heute ist ein der Presse ein Gastkommentar von mir dazu abgedruckt – gleich neben der Kolumne von Thomas Weber, was mich wie immer besonders freut.
Digitaler Heldenplatz
Die Trennung der Öffentlichkeiten von X und Bluesky wird ein zeitlich begrenztes Phänomen bleiben.
Schnarrend tippt er vom Altan, unter dessen Brüstung sich die himmelblaue Agora entfaltet, während die Helden Rückzug halten. Armin Thurnher ist teilnehmender Kommentator einer Migrationsbewegung, eines Exodus, eines #eXit – so der Hashtag der Kampagne – einer kleinen, aber lauten Gruppe österreichischer Medienmenschen. „Journalisten verlassen X: Helden des Rückzugs”, schreibt er in der Wiener Regionalzeitung “Falter”.
Die „Helden“ wollen der Plattform keine oder nur mehr wenig Aufmerksamkeit mehr zuteilen. Zu gewinnen gibt es nichts mehr. Der Algorithmus lässt den verbalen Dreck den Abhang abrinnen, der ihn zum Slippery Slope macht, der nicht mehr erklommen werden kann, um die Fahne der moralischen Überlegenheit am Gipfel zu verteidigen. Die Tapferen ziehen gen Bluesky weiter. Das ist naturgemäß legitim – wie auch, dass dieser #oeXit als Rückzug weder immerwährend noch irreversibel angelegt sein muss. Kaum einer will die über Jahre aufgebaute Reichweite ohne eine Chance auf Rückkehr einfach so stilllegen. Dass der Username derweil einfach zur Handpuppe wird, wird durch ein nachvollziehbares Festhalten daran verhindert. Die Wahrscheinlichkeit, dass X auch auf irgendeinem Elon Musks unergründlicher Wege auch wieder für die oeXiteers attraktiv wird, darf auch als größer Null eingestuft werden.
Gegen den Rückzug als Mittel des Protests gegen Entwicklungen, die viele mit ihren Idealen nicht vereinbaren können, ist grundsätzlich nichts einzuwenden, was nicht bedeutet, dass es über den Charakter von X und die Wirkmacht des #eXit-Manövers nicht viel zu diskutieren gäbe. Aber losgelöst davon und auf den Versuch, mit der US-Plattform Bluesky eine Alternative etablieren zu wollen, bezogen: Der Markt wird es wie immer regeln, wenn man ihn nur lässt. Wem es nicht gefällt, kann gehen. Wem es doch gefällt, darf auch wieder zurückkommen. Jemand wie ich, der auf X seit vielen Jahren nur mehr dadaistische Polls und harmlose Provokationen ventiliert, und nur selten ernsthaft diskutiert, kann auch ganz entspannt beide Plattformen verwenden. Mit Truth Social, Mastodon und Threads ergibt das einen guten 720°-Blick auf die Netzgesellschaft, der sich im Nutzen passiver Kommunikation auch erschöpft.
Vom Tugendstrahlen
Zurück zum Mann, der über die Brüstung des Söllers gebeugt Bluesky zum Heldenplatz erhoben hat: Thurnhers Selbstheroisierung durch den Anschluss und Auto-Eloge an die Halbgötter des österreichischen Journalismus, wirkt befremdlich. Es verstärkt den Charakter der Tugendstrahlerei des „Rückzugs“ noch mehr: „Seht, wir gehen mit leuchtendem Beispiel voran.“ Nicht aber ohne den gelegentlichen Blick zurück. Die moralische Vorhut kann sich nicht vom Zwang befreien, doch noch gelegentlich in das alte Twitter einzuloggen, um nach den (!) Rechten zu sehen: Gar grauselig ist der Ton dort! Mit Häme werden die Konvertiten bedacht. Alles nur ein Beweis dafür, den richtigen Schritt gesetzt zu haben, Musks verderbte Dreckschleuder verlassen zu haben.
Nun gut, zum Schleudern von Dreck bedarf es zweierlei: Dreck und Schleuder, oder Inhalt und algorithmische Distribution. An der Produktion von ersterem haben sich viele, die nun abziehen, auch gerne beteiligt. Ihre verstrahlte Frömmigkeit ist beileibe keine Tugend, deren Fehlen sich trennscharf auf X-Remainers beschränken lässt. Bluesky mag jetzt noch ein netterer Ort sein – ich prognostiziere nur, er wird es nicht bleiben. Aus medientheoretischer Sicht erleben wir innerhalb der „Fragmentierung von Öffentlichkeit“ im Habermas‘schen Sinn einen Bruch, der vermutlich zum Entstehen einer fragmentierten Parallelöffentlichkeit führt. Bislang haben sich Plattformökonomien als Winner-take-all-Märkte erwiesen. Es wird auch diesmal so sein.
Dieser Falter-Kollektivismus von "wir" ist eigentlich rührend - samt dem alten Mann mit erhobener Faust, vorne an der Barrikade. Wenn man sich wirklich als politisches Subjekt affirmieren will, dann ist es wichtiger die eigene Blase zu verlassen als sich über die Toxizität der Andersdenkenden zu beschweren. Klar, der Algorithmus ist mächtig, aber nur solange ich mich zu einem "wir" subsumiert habe. Orthogonalität is möglich.
Ich verstehe die Frust allerdings. Meines war ein moralisches Dilemma ob ich überhaupt politisch partizipieren soll, in einem kindlichen Freund-Feind Kampf, oder ob ein Waldgang (Substack?) die einzig würdige Option ist.