Die letzten zwei Jahre mit Corona förderten einiges an die exponierten Reibungsflächen der Gesellschaft, das bislang wenig relevant, vielleicht auch harmlos und darum – nachvollziehbar – kaum beachtet wurde. Die vielbejammerte Polarisierung der Gesellschaft in Haltungsfragen ist weniger eine Folge der Pandemie, sondern verkörpert das deutliche Hervortreten bestehender Bruchlinien. Vor Corona waren weder Impfungen noch die Einschränkung grundrechtlich garantierter Freiheiten Themen einer breiten öffentlichen Debatte. Jetzt müssen wir uns alle damit auseinandersetzen. So weit, so banal.
Was mich fasziniert – oder etwas weniger euphorisch: worunter vielleicht nicht nur ich leide – ist eine wahrgenommene Flut an Inkonsistenzen im Denken. Ich bin mir auch hier sicher, dass nicht das Virus und seine Folgen, diese Widersprüchlichkeiten erzeugt haben. Sie waren schon immer da und sie werden verstärkt durch ein Mainstreaming von Einstellungen an politischen Bruchlinien. Der Versuch, neu gewonnene Überzeugungen in eine Links-Rechts-Polarität zu bringen, kann zu paradoxen Konstellationen führen. So können manche gleichzeitig die Wissenschaft hochleben lassen, die einen Impfstoff entwickelt, den Kapitalismus verteufeln, der ebenso zur Entwicklung beigetragen hatte, ihn produziert und verteilt, daneben selbst an Astrologie glauben und Esoterik umstandslos und ausnahmslos als politisch rechts qualifizieren.
Das da vieles nicht zusammenpasst, wird in der Praxis damit übertüncht, diese Widersprüche über vertraute Ideologie zu paketieren, zu verstecken und vereinfachen. Viele Menschen brauchen offensichtlich auch die Sicherheit, mit Corona und Coronamaßnahmen neu aufgetretene politische Fragestellungen in ihrem politischen und weltanschaulichen Schema auch verorten zu können. Kurz: Man will ja nicht versehentlich einen Standpunkt vertreten, den sonst nur die FPÖ und die Grünen teilen. Denn es gilt: Wer mit Katholikinnen marschiert, ist bekanntlich selbst eine.
Der selbstwidersprüchliche Umgang mit Überzeugungen ist jedenfalls hochinteressant und betrifft in Graduierungen vermutlich jeden. Ich will mich da in Theorie und Praxis gar nicht ausnehmen. Dass es mir an mir selbst aber vielleicht gar nicht auffällt, oder ich es an mir dulde oder akzeptiere, macht es nicht erträglicher. Logische Inkonsistenz ist unverzeihlich. Sie ist eine Wurzel vieler Übel.
(Ich lehne mich jetzt nicht soweit hinaus, eine Serie von beobachteten Inkonsistenzen niederzuschreiben, aber ich habe dem Titel einmal eine 1 nachgestellt, weil mit der Text hier immer länger geworden ist und vermutlich fortgesetzt wird.)
Der Staat ist kein Manager
Dass der Staat kein guter Unternehmer ist, dürfte sich herumgesprochen haben. Das macht aber auch nichts; das Wirtschaften ist seine Aufgabe nicht (das Haushalten schon eher). Während die Fiktion staatlichen Unternehmertums (aka Zentralverwaltungswirtschaft) mittlerweile auch experimentell widerlegt wurde, hält sich ein anderer Mythos noch hartnäckig, nämlich dass der Staat ein vertrauenswürdiger Manager sei. Viele Menschen sehen den Staat in einer aktiven Rolle als Serviceeinrichtung für alle Lebensbereiche. Die Erzählung lautet wie folgt: Wir vertrauen ihm unsere Steuern, Gebühren und Abgaben an, auf dass er (bzw. die von ihm eingerichteten Institutionen) unter anderem effizient und effektiv Straßen bauen (Tunnel lieber nicht), das Gesundheits- und Pensionssystem organisieren, öffentlich-rechtliche Information (Kanzlerinterviews) und Bespaßung (Dancing Stars, Skirennen) produzieren, Pandemien und vieles andere mehr verwalten möge. Manche meinen sogar, ohne staatlich bezuschusste Forschung gäbe es weder iPhones noch Covid-Vakzine. Die Organisation humanitärer Einrichtungen und Hilfsorganisationen vertraut ihm der Staatsgläubige aber lieber doch nicht an, weil die Kirchen das in Gestalt von Caritas, Diakonie etc. besser und effizienter können. Zumindest, wenn man den kruden Unterstellungen mancher Kirchenrechtler†innen glaubt:
»Ein Großteil der Ausgaben, welche die Religionsgesellschaften für soziale Aktivitäten bereitstellen, werden von der öffentlichen Hand refundiert. Mit dieser Form der ›Auslagerung‹ erspart sich der Staat Geld für diesen Sektor, da die religionsgemeinschaftlichen Organisationen effizienter arbeiten.«
(Kalb, H.; Potz, R.; Schinkele, B.: Religionsrecht. Wien 2013, S. 305)
Die Behauptung von größerer Effizienz ist selbstverständlich erfunden. Dieselben Autor†innen räumen auch ein, dass diese Leistungen ein “nicht genau bezifferbares – entscheidendes Instrument der Legitimation ihres Status” wären. Nicht genau bezifferbar, aber effizienter? Es ist genauso widersprüchlich, wie es klingt. Und warum gerade in diesen Bereichen der Staat Aufgaben nicht wahrnehmen soll, die angesichts ihres nur scheinbar nicht-kapitalistischen Charakters gerne vom alles regelnden Markt (je nach Einstellung zum freien Markt ironisch oder nicht-ironisch gemeint) ausgenommen werden, bleibt ebenso widersprüchlich.
Ein weiteres Mysterium ist das ungebrochene Vertrauen in die Effizienz eines staatlichen Umverteilungssystems, dessen Lenkungsorgan erratisch durch eine Pandemie schlingert. Angewandte Inkonsistenz. Die gleiche Regierung, die für ihr Covid-Management zurecht gescholten wurde, aber auch die Regierungen, die schon zuvor nicht in der Lage waren, Pensions- und Bildungssysteme zu aktualisieren, werden immer noch als die besseren Manager wahrgenommen, wenn es darum geht, ein höheres Maß an Fairness in der Gesellschaft herzustellen. An dieser Stelle würde wohl eingewendet, dass natürlich nicht diese Regierung den Staat repräsentiert, den man sich als groBen Umverteiler vorstellt, aber die Wahrheit ist natürlich, dass es immer nur diese jeweilige Regierung ist, der man mehr Effizienz und Effektivität oder Sparsamkeit nicht zumuten will, um das Gemeinwohl nicht zu gefährden und die Aushöhlung des Sozialstaats zu riskieren.
Pandemie-Bürokratie
Der Manager ist meistens kein Unternehmer, er ist in der Praxis zunehmend ein Bürokrat, der in Konzernen und der öffentlichen Verwaltung gedeiht. Erfolgreiche Unternehmer kommunizieren, schlechte Manager befehlen.
Die Republik Österreich zählt zu letzterer Spezies; sie hat in den vergangenen zwei Jahren in Form von Bundeskanzlern (3) und Gesundheitsministern (2) vor allem Befehle ausgegeben und wenig vorausschauend kommuniziert. Im Mai 2020 bezeichnete ich das in einem Gastkommentar für die Presse als Multikommunikationsversagen der Regierung – bis heute kann ich davon leider nichts zurücknehmen. Der Verdacht, dass Kommunikation zur gelingenden Bekämpfung einer Pandemie dazu gehört, reifte erst spät. Im Herbst 2021 dämmerte es nach der versäumten Überzeugungsarbeit zur Impfung im Sommer auch den prominenteren Akteuren öffentlicher Pandemiediskurse, dass es nicht nur an den Maßnahmen selbst, sondern auch an deren Kommunikation liegen könnte, ob sie greifen. Im November 2021 spricht Peter Filzmaier von einem Kommunikationsdesaster. Auch weil Regierungsmitglieder einander zunehmend widersprechen, hält er Einstimmigkeit als “Zauberwort der Krisenkommunikation” für unausgesprochen.
Ich sehe das anders: Das Kommunikationsproblem der Regierung liegt nicht darin, dass Minister öffentlich streiten, sondern dass sie es nicht tun. Selbst nach einer ordentlich und gerne coram publico ausgeführten Debatte muss nicht Einvernehmen hergestellt werden. Gerade die Diskursveröffentlichung mit ihren Widersprüchen würde zu einer größeren Akzeptanz führen, als eine One-Voice-Policy, die leicht durchschaubar die Pluralität der Meinungen in einer Krisensituation als Sollbruchstellen anlegt. Selbstverständlich dürfen dann getroffene Entscheidungen nicht untergraben werden. Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass Filzmaier, das bestimmt auch so gemeint hat. In der Berichterstattung bleibt dann oft ein verkürztes, aber letztendlich kontraproduktives “Bitte nicht streiten” übrig.
In der Fortsetzung “Inkonsistenzen 2” lesen Sie über Gecko, Impfpflicht, TCM, Edtstadler, Mückstein, vielleicht aber auch Kurz, Falter, u. a. m.
Kunst und Klischee
Im November war ich Live-Gast beim (großartigen) Podcast Kunst und Klischee von Katharina Herzog und Christian Bazant-Hegemark (produziert von Philipp Pankraz).
Die Folge “Niko Alm über die Trennung von Religion und Staat, und was sie mit Kunst und Kultur zu tun hat” ist u. a. hörbar bei Apple und Spotify.