In meinem letzten Newsletter legte ich meine Gedanken zur kommendem Impfpflicht offen. Der Text wurde oft weitergeschickt und gelesen, wie ich den Statistiken dazu entnehmen kann; das Feedback darauf war gut bis sehr gut, vor allem von jenen, die das Thema auch geistig beschäftigt. Auch wenn für mich eine Entscheidung gegen die Impfpflicht recht klar ausfällt, halte ich es für intellektuell redlich – zumindest theoretisch – dafür einzutreten. Wie in meinem Text ausgeführt, gibt es Gründe dafür: die Krankheit könnte tödlicher sein, die Impfung könnte noch viel besser wirken und tatsächlich Freiheit verschaffen, eine Impfpflicht kann als Notfallinstrument auf Halde beschlossen werden, um gegebenenfalls ohne Zeitverlust umgesetzt zu werden. Prinzipielle Einwände aus grundrechtlichen Erwägungen bzw. aus dem Verbot des Staates seine Bürger:innen ohne weitere Bedingungen zu Handlungen zu verpflichten, bleiben immer bestehen – aber keine politischen Regeln sind unüberwindbar. Ich kann nachvollziehen, dass man der Impfpflicht zugeneigt ist, weil man selbst genug von der Pandemie hat (Reminder: Die Nachtgastronomie ist de facto seit zwei Jahren gesperrt.), darin einen Ausweg sieht, bestehende Lockdowns zu beenden oder das Risiko einer Überlastung kritischer Infrastrukturen zu vermeiden. Dafür habe ich Verständnis, obwohl ich selbst einer bin, der Prinzipien entgegen persönlichem Nutzen hochhält. So wäre beispielsweise ein Rauchverbot aus meiner Sicht nur aus der Perspektive Mitarbeiter:innenschutz umsetzbar gewesen. Wenn der Wirt als Eigentümer ohne Angestellte alleine im Gästebereich arbeitet, gibt es keinen Grund für ein Rauchverbot. Die Fallzahl dieser Ausnahme wäre mehr als überschaubar. Und wer will seinen Kinderwagen schon in so ein Lokal schieben? Mit etwas Nachdenken lassen sich oft praktisch gleichartige Ergebnisse erzielen ohne Prinzipien zu opfern.
Nützlichkeitsimmunisierung
Die Grenze der rationalen Redlichkeit wird dann überschreiten, wenn die eigene Bequemlichkeit im Denken in die moralische Hoheit eine Zweckheiligung mündet. Weil es nützt, ist es gut. Die Heiligsprechung der Werkzeuge zählt nicht umsonst zur Armierung der Fundamentalist:innen.
Es nimmt manchmal auch die Form einer Überhöhung ins Utopistische an, die wir aus der Praxis zur Genüge kennen. Sie kennen diesen Kalauer vom Kommunismus, der ja nur in seiner Anwendung nicht funktioniert, aber sonst ja eine gute Idee wäre? Spoiler: er ist auch theoretisch keine gute Idee. Es ist ein bisschen so wie beim ORF und seiner demokratischen Funktion. Es kann schon sein, dass er sie gut erfüllt, aber muss die Informationsabteilung einen milliardenschweren Behemoth mitschleifen? Es ist eine Nützlichkeitsimmunisierung, die sich aus einer Teilleistung ergibt. Oder nehmen wir die Caritas als Beispiel: Klar erbringt sie wichtige Leistungen für den Staat, der diese selbstverständlich auch teuer bezahlt – und wohlgemerkt auch mit anderen Anbietern ersetzen könnte. Aber die Caritas hatte mit Joseph Ratzinger auch einen Chef, dessen Vertuschung von Vergewaltigung und Missbrauch aktuell wieder Thema ist. Warum alimentiert die Allgemeinheit weiterhin diese Institution, die nicht die Kraft aufbringen sich selbst zu reformieren?
Von dieser Form der Nützlichkeitsimmunisierung ist auch die Impfpflicht befallen. Selbst, wenn man die grundlegenden Hindernisse wegräumt, muss diese Maßnahme auch die in sie gesetzten Versprechen hinsichtlich Wirksamkeit erfüllen und keine Kollateralschäden mitbringen, die einfach geduldet werden sollen. Das wird nicht der Fall sein. Ein paar Vermutungen dazu:
Die Umsetzung erfolgt zu langsam
Es wird Monate dauern bis die Bevölkerung als Folge der Impfpflicht auch tatsächlich geimpft sein wird. Wenn die Maßnahme beschlossen wird, sollte sie auch ordentlich – also schnellstmöglich – exekutiert werden. Warum dieses Herumgeeiere mit Nachfristen, Strafenverschleppung, etc.?
Lotterie
Die Impflotterie darf auch als Beleg dafür herangezogen werden, dass die Regierung selbst nicht an die Erfüllung der Impfpflicht glaubt. Statt einer effektiven Durchsetzung versucht die Regierung mit einer Incentivierung die Verpflichtung auszusitzen. Dass dabei Unsummen versenkt werden, belastet das Budget weiter sinnlos.
Durchseuchung
Corona impft selbst schneller als die Regierung. Das Virus erledigt im Moment die Arbeit der Regierung und immunisiert die Menschen zügiger als jede Impfkampagne.
Keine Ende der Maßnahmen in Sicht
Die Impfpflicht ist von dem Gedanken getragen, dass vor allem Geimpfte durch die Sorglosigkeit der Ungeimpften ungerechtfertigt Maßnahmen mitzutragen haben, die vermeidbar gewesen wären. Jetzt kommt die Impfpflicht, die bestehenden Maßnahmen bleiben aber. Da wurde nicht viel gewonnen.
Nemalleus locutus, causa finita
Aus heutiger Sicht war auch klar, dass die utopistische Idee von Zerocovid in der Praxis nie funktionieren hätte können. Die Andachstglaube an die Impfpflicht mit seiner begleitenden Nützlichkeitsimmuisierung ist ähnlich gelagert. Unterm Strich ist die Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt in dieser Form auch wenig zielführend. Wenn wie durch Zauberhand am 1. Februar alle geimpft und am 2. Februar alle Maßnahmen beendet wären, dann wäre ein Abtausch von Prinzipien und Praxis attraktiv(er). Aber davon sind wir Lichtjahre entfernt.
Wer sich hinter die Impfpflicht stellt und dabei nicht nur seiner Schadenfreude über Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber Ungeimpften folgt, sondern Nutzenerwägungen in seine Wertung einarbeitet, sollte den tatsächlichen Nutzen der Impfpflicht jetzt kritisch im Auge behalten und sich die Frage stellen, ob es das wert war. Ich werde das tun und mir vorbehalten, mich geirrt zu haben.
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Die neue Gegenwärtigkeit des Metaverse
Neal Stephenson hat vor 30 Jahren den Begriffe Metaverse erfunden. Was sagt der Autor heute zum technologischen Wandel?
Diese Frage wird von mir (bzw. naturgemäß vom Autor selbst) in einem Gastbeitrag in der Tageszeitung Die Presse beantwortet, der am 8. Jänner 2022 erschienen ist.
Falls Sie die Paywall nicht überwinden wollen, dann können Sie den Text auch auf dem Average Substack lesen.
Die Lotterie lässt mich zweifeln, wer diese Republik eigentlich regiert.