Politik der Gegenwartsbewältigung
Newsletter Nr. 45 – Österreichische Regierungen handeln nicht vorausschauend, sondern bevorzugt reaktiv im Hier und Jetzt.
Angewandte Politik kann vielfältig kategorisiert werden; ein beliebtes Schema ist links/rechts – hängt man noch einen Rahmen mit Windrose zur Einnordung darum, heißt es dann konservativ/progressiv, usw. Die Beschriftungen der Schubladen sind bekannt.
In meiner Zeit als teilnehmender Beobachter des politischen Geschehens im Parlament hat sich in mir ein anderes persönliches Messinstrument etabliert, das ideologischen Zuschreibungen zwar angenähert werden kann, aber grundsätzlich nicht inhaltlich, sondern mehr als Blickrichtung zu verstehen ist. Die Kurzformel lautet: Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung. Es gibt Menschen, die interessieren sich eher dafür, ob wir wirklich auf dem Mond waren und wie das vonstatten ging, und andere fliegen lieber zum Mars.
Vergangenheitsbewältigung
Die im politmedialen Komplex errichtete Schleife aus Qualitätsjournalismus, Qualitätspolitik und Alphatwitter bezieht ihre Energie primär aus Vergangenheitsbewältigung. Ihre Instrumente heißen Untersuchungsausschuss, Gedenken und kontrollierende Rückschau. Die journalistische Begleitung und Affirmation produziert einen Politikstil, dessen Leistung darin besteht, sich durch Aktenziegel zu lesen und Anfragen zu formulieren. Für gestaltende Politik bleibt den Arbeiterinnen der Zeitgeschichte wenig Zeit, die sich anders in der Kontrolle, Reparatur von Skandal und Korruption erschöpft – oft in Detailfragen, die keinen legislativen Änderungsbedarf nach sich ziehen.
“It’s a dirty job but someone’s gotta do it.” - Chuck Mosley (We Care a Lot)
Die Kontrollfunktion des Parlaments ist ohne Zweifel wichtig und muss bedient werden. Aber sie ist so intensiv, dass sie im Übermaß Aufmerksamkeit von tatsächlich wichtigeren Dingen abzieht. Ich habe im Parlament selbst erlebt, wie viele Ressourcen in Untersuchungsausschüssen auch versenkt werden können.
Zukunftsbewältigung
Mein persönlicher politischer Ansatz war nach vorne gerichtet und von der Frage geleitet, was in Kenntnis bestehender Unzulänglichkeiten besser gemacht werden kann. Und noch spannender: wie können stattfindende Entwicklungen (Nanotechnologie, identitäre Spaltungen, Superintelligenz und Singularität, Pandemien, usw.) rechtzeitig vorbereitend politisch abgebildet werden können. Diese Form der Politik wird journalistisch kaum bedient. Sie birgt als Präventivhandlung keine Sensationen oder Skandale. Im Sinn eines medialen Selektionsprozesses setzt sich der Phänotyp Vergangenheitsbewältigung durch. Das Formulieren von Anfragen wird zum Medienereignis ohne praktischen Nutzwert. Politiker wie Peter Pilz beherrschten das Spiel der Anfrageankündigung perfekt. Bei ihm reichte es oft, ein mögliches Vorgehen in den Raum zu stellen, einen DIN-A4-Zettel in die Höhe zu halten und seine Pressekonferenzen wurden als Meilensteine investigativen Parlamentarismus abgefeiert. Viele wollen es ihm gleich tun. Ministerien werden mit sinnlosen Anfragen von Abgeordneten geflutet. Manchmal mögen sie eine bestandsanalytische Grundlage liefern, aber zu praktischen Verbesserungen führen sie in aller Regel nicht. Aber es ist einfacher als sich sinnvolle Anträge zu überlegen und bringt mehr mediales Echo von Journalistinnen, die dieses Werkzeug noch immer völlig überschätzen.
Das ist keine Geringschätzung von Peter Pilz oder der politischen Arbeit anderer Rückspiegelpolitikerinnen, mehr eine Unzufriedenheit über eine Fehlallokation von Aufmerksamkeit. Aber man kann es mir auch getrost als Whataboutism oder Neid anrechnen. Mir geht es nicht darum diese zwei Typen (Vergangenheit x Zukunft) gegeneinander auszuspielen. Letztendlich ist es eine Frage des Gusto, ob man politisch zurück oder nach vorne schauen will; und es sind zweifelsohne einander ergänzende und unverzichtbare Politikfelder, die beide durch den Fleiß und das Engagement der Akteure geprägt sind.
Der dritte Weg - Gegenwartsbewältigung
Es gibt aber noch einen dritten Weg: die Gegenwartsbewältigung, von der jene betroffen sind, die sich schlecht vorbereitet haben, sei es aus Unvermögen, Nachlässigkeit oder Faulheit. Während die Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung – gekennzeichnet durch Aufarbeitung und Vorbereitung – aktive Herangehensweisen an die Politik sind, ist die Gegenwartspolitik eine reaktive Spielart. Es ist die Standardvariante österreichischer Regierungen der letzten Jahrzehnte: Es gab keine wesentlichen Reformen bei Bildung, Pensionen, ORF, Klima, Arbeit, Steuern u. v. m. und – wie wir mittlerweile wissen – keine Vorbereitungen auf absehbare Katastrophen wie z. B. eine Pandemie.
Aber auch bei weniger epochalen politischen Entscheidungen, die nicht leichter werden, wenn sie aufgeschoben werden, lässt sich die zurückgelehnte Position des Abwartens, bis die Zukunft endlich zur Gegenwart verdampft ist, feststellen. Dazu zwei kleine Beispiel aus meiner Zeit als Abgeordneter:
Der Präsident des Rechnungshofs wird bekanntlich für zwölf Jahre bestellt. Wenn also eine Periode zu Ende geht und eine neue Präsidentin bestellt werden soll, könnten sich die Parteien auf dieses absehbare Ereignis jahrelang vorbereiten, geeignete Kandidatinnen in Position bringen, etc.
Als die Amtszeit von Josef Moser auslief, war die türkisrote Regierung nicht vorbereitet. Es wurden eiligst Menschen gesucht, die ihm in dieser Position nachfolgen könnten. Die Regierungsparteien hatten einfach vergessen, die bevorstehende Ablöse ordentlich abzuwickeln und einen breiten Hearing-Prozess abzufahren. Ein Versäumnis – ungeachtet dessen, wie die später bestellte Margit Kraker de facto ihren Job dann anlegen würde. Zu sehen, dass politische Parteien mit Regierungsverantwortung so arbeiten, war überraschend und half jede Verschwörungsfiktion langfristiger Parteistrategien in mir zu zertrümmern.
Ein zweites Beispiel ist das im Jänner 2016 beschlossene Polizeiliche Staatsschutzgesetz (PStSG), in dessen Genese auch ich als Sicherheitssprecher von NEOS eingebunden war. Vor dem Gesetzesentwurf wurde ein einjähriger Prozess inszeniert, aus Diskussionen, Studienreisen nach Norwegen und in die Schweiz, usw. Opposition und Öffentlichkeit wurden brav eingebunden. Als es dann darum ging dieses Gesetz auch zu formulieren, wurde das aufwändige inklusive Fact Finding kurzerhand ignoriert und im Ministerium das Gesetz einfach nach den Vorstellungen des BVT runter getippt. Abgesehen davon, dass dabei keinerlei Expertise der vorher eingebundenen Stakeholders berücksichtigt wurde, fand man sich einmal mehr in der Gegenwart wieder und hatte die wertvolle Zeit verstreichen lassen, ein wirklich gutes Gesetz zu entwickeln. Der erste Entwurf des PStSG war dermaßen schlecht, dass er nach der ersten Begutachtung deutlich abgeändert wurde. Und die Kenntnis darüber, wie das BVT jetzt aufgestellt ist, belegt die Schlampereien von vor fünf Jahren.
Präsens-Dienst
Österreichische Regierungen handeln nicht vorausschauend, sondern bevorzugt reaktiv im Hier und Jetzt. (Ich weiß, dass Sie jetzt unvermeidlich auch an Rudolf Anschober denken müssen, weil einfach entscheidend ist, was jetzt in den kommenden zwei Wochen passiert.) Diese Form der Gegenwartsbewältigung ist beim RH-Präsidium, das auch einfach einmal aus dem Ärmel geschüttelt werden kann, noch kein großes Problem, aber bei technologischen, gesellschaftlichen Entwicklungen, die weitreichende Folgen für unser Leben (oder auch Überleben) haben können, ist das zuwenig. Ich denke dabei z. B. u. a. an die weitere Automatisierung des Arbeitslebens, Implikationen der Entwicklung echter künstlicher Intelligenz, die fortschreitende Fragmentierung wahrgenommener Realität und Polarisierung der Gesellschaft. Das ungelenke Herumtappen bei der Regulierung von Big Tech wird noch Untersuchungsgegenstand der politischen Arbeiter der Vergangenheitsbewältigung werden.
"If we don't have a public conversation about the politics of the internet of things, we risk being trapped in decisions made for us." – Philip N. Howard (Pax Technica)
Unabhängig davon, dass Österreich bei vielen Entwicklungen, die keine Rücksicht auf Nationalstaatlichkeit nehmen, nicht viel bewirken kann, werden Änderungen im strukturellen Gefüge, das die Basis für soziales Handeln bestimmt, mit Gegenwartspolitik nicht zu bearbeiten sein.
Eigentlich wollte ich einen Text über die Gegenwartsbewältigung aktueller, österreichischer Politik in diesem Ausnahmedauerzustand schreiben. Betrachten Sie das eben als Einleitung für einen zweiten Text.
PS: Es gibt auch einen zweiten, englischsprachigen Newsletter von mir zu Medientheorie und -praxis. Hier anmelden: rezor.substack.com
Ich kann Ihre Sichtweise zu 100% teilen. Es werden enorm viele Ressourcen für die "Vergangenheit" , aufgewendet. Für eine Vision, ganz gleich welcher Art, scheint nichts mehr übrig zu bleiben. Besonders schmerzt es, wenn die Jugend, mit diesen Nihilismus, alleine gelassen wird. Dann besteht die Gefahr, dass autoritäre Bewegungen, diese dankend aufnehmen. Ich bin seit meiner Jugend an, politisch interessiert, aber erst jetzt verstehe ich "die politische Emigration " nach Innen, wie es seinerzeit in der UDSSR , bei vielen Menschen herrschte.