Wagnis Freiheit
Newsletter Nr. 89 – Sebastian Junger, Böckenförde-Diktum, Leben in einer Demokratie
Mein letzter Newsletter “Religionsmigration” wurde in der Presse (Ausgabe vom 10. Mai) als Gastkommentar mit dem Titel “Wie die Religionsfreiheit Grenzen überschreitet” veröffentlicht. Mit etwas Verspätung, nämlich gestern, habe ich bemerkt, dass es darauf eine Replik gab: “Bei dem Alm, da gibt‘s koa Gott” – ein erheiternder Text von einem Menschen, der seine Zeit damit verbringt, sich Gedanken über mich zu machen. Das ist doch schön.
Ich wiederum habe derweil andere Dinge gelesen, unter anderem “Freedom” von Sebastian Junger und darauf hin diesen Text für Materie geschrieben:
Wagnis Freiheit
Eine Wanderung von Sebastian Junger zu Ernst-Wolfgang Böckenförde.
Freiheit ist für die meisten Menschen, ohne dass sie es bemerken, ein unverständliches Konzept – für den Rest ein schwieriges. Gerade jene, die sich intensiver mit Freiheit beschäftigen, nehmen mehr Begrenzungen in all ihren Facetten wahr als jene, die meinen, nahe am Optimum persönlicher Freiheit zu leben. Letztere ziehen Vergleiche mit anderen politischen und kulturellen Regimen heran, fühlen sich relativ gesehen frei, navigieren innerhalb des Rahmens gesellschaftlicher und gesetzlicher Normen und berühren diesen nur in seltenen Fällen. Nicht selten argumentieren sie, dass Freiheit nur durch diesen Rahmen überhaupt gewährleistet werden kann. Sie wollen die Freiheit umhegen, in der Bahn halten, sodass das Individuum nicht auf die falsche Spur gerät. Zu dulden fällt ihnen – auch wenn sie gerne von Toleranz sprechen – schwer; sie brauchen die Strukturen gelenkter Freiheiten und wollen diese auch dem Rest der Gesellschaft überbinden. Sie halten es für den Ausdruck individueller Selbstbestimmung, wenn Menschen sich beispielsweise freiwillig für das Tragen religiöser Verhüllung entscheiden; Schwangerschaftsabbrüche sollen aber im Strafgesetzbuch behandelt werden. Die Schnittmenge dieser Haltungen mag gering sein, und doch übersehen ihre Träger beide, dass sie die Unfreiheit jener, die diese Selbstbestimmung nicht ausleben können, damit verlängern. Das Beispiel lässt sich analog auf andere Formen der Ausdrucksfreiheit, Überwachung, unternehmerische Freiheiten und vieles mehr übertragen. Die Integration von Unterdrückung in ihren Freiheitsbegriff löst bei ihnen keinerlei kognitive Dissonanz aus, sondern einen beruhigenden Lenkungseffekt.
Circa from Jersey to Pittsburgh
Sich frei in der Welt bewegen zu können, ist nicht viel mehr als eine Illusion, weil uns auch hier Grenzen gesetzt werden, die wir üblicherweise nicht wahrnehmen. Ein Land wie etwa die USA querfeldein zu durchmessen, stellt im 21. Jahrhundert eine große Herausforderung dar. Will man öffentliche Straßen vermeiden, ist eine dauerhafte Besitzstörung unvermeidlich, … weiterlesen auf materie.at
Radio-Athikan-Podcast: Episode 32
Unser Podcast ist mittlerweile bei mehr als 30 Episoden angelangt. Auf Folge 32 mit den Themen “Religions- oder Demokratieunterricht, Lehrerin ohne Kopftuch, Maturasegen” haben wir besonders gutes Feedback bekommen.
Großen Raum widmeten wir der Frage, ob “Leben in einer Demokratie” als Schulfach eine sinnvolle Alternative oder Weiterentwicklung des Ethikunterrichts sein kann. Der Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr veröffentlichte im Juni Zahlen, wieviele Pflichtschülerinnen und -schüler in Wien konfessionsfrei sind oder nach dem Wunsch der Eltern einem religiösen Bekenntnis zugeteilt werden. Aus diesem kulturellen Pluralismus ergibt sich die Notwendigkeit eines verpflichtenden gemeinsamen Unterrichts für alle Kinder.