Die organisierte Religion stellt sich dem Fortschritt zwar gern in den Weg, aber verschließt sich den Früchten von Forschung und Technik keineswegs. Impfstoffe, Iphones, Drohnen und Lenkwaffen werden zum Erhalt, Abwicklung und Ausbreitung des Glaubens gerne eingesetzt. Und auch die immateriellen Werkzeuge moderner öffentlicher Kommunikation werden gerne genützt: Religionsgesellschaften haben längst erkannt, dass mit vermeintlichen Benachteiligungen heute gut Politik zum eigenen Vorteil gemacht werden kann. Faktenferne ist wie bei allen identitätspolitischen Erzählungen über die gefühlte Unterdrückung von Gruppen kein Nachteil. Das Mittel zum Zweck ist weder neu noch ein Phänomen, das an sich diskriminierend wirkt, es nennt sich religiöse Minderheit.
Die Mehrheit einer Religionsgesellschaft in einem definierten Territorium zieht zwangsläufig die Existenz von Minderheiten nach sich und diese gibt es praktisch überall. Moralische Monokulturen existieren nicht einmal in abgeschotteten Staaten wie Nordkorea oder dem theokratischen Iran, auch wenn Menschen mit abweichender Weltanschauung als der ideologischen Orthodoxie dort tatsächlich diskriminiert werden. Soweit wenig überraschend. Aber der Begriff der Minderheit ist leider nicht so eindeutig.
Minderheit x Diskriminierung
Zu einer Minderheit zählt man schnell einmal, wenn das Merkmal, das für die Gruppenzugehörigkeit ausschlaggebend ist, in Unterzahl gegenüber größeren Gruppen innerhalb einer Population auftritt. Minderheiten werden naturgemäß nicht nur über die Weltanschauung definiert. Die Blutgruppe AB- zum Beispiel ist sehr selten und liegt sowohl in Österreich als auch weltweit in den Bevölkerungen aller Staaten im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Auch Personen mit dem Bekenntnis evangelisch AB sind in Österreich und global gesehen eine kleine Minderheit. Aber das ist Zufall.
Diese neutrale Sicht auf eine Minderheit als bloße Feststellung eines Größenverhältnisses entspricht aber nicht der gebräuchlichen Anwendung. Die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) definiert wie folgt:
M. bezeichnet eine Bevölkerungsgruppe, die sich von der übrigen Bevölkerung aufgrund bestimmter sozialer bzw. ökonomischer Unterschiede, politischer oder religiöser Überzeugungen, ethnischer Zugehörigkeit etc. abgrenzt oder die abgegrenzt wird. Zu unterscheiden sind a) M., die gegenüber der Mehrheit benachteiligt werden, und b) M., die in der Lage sind Mehrheiten zu unterdrücken (z. B. während der Apartheid in Südafrika).
(Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2020. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.)
Mit dieser Definition bin ich aus drei Gründen unglücklich: Erstens wird damit unterstellt, dass es Unterdrückte und Unterdrückende geben muss, was bei sehr vielen Merkmalen faktisch nicht so ist. Zweitens trifft die durchschnittliche Behandlung von Gruppen nicht zwangsläufig auf einzelne Individuen zu, das außerdem auch Gruppen mit unterschiedlichem Status angehören kann, und damit auch – wenn es denn überhaupt tatsächlich so ist – einmal bevorzugt und ein anderes Mal benachteiligt wird. Und drittens verunmöglicht die dergestalt negative Konnotation des Begriffs den neutralen Gebrauch. Mir ist nicht klar, wie wir über zahlenmäßig kleinere Segmente der Bevölkerung ohne Umschreibungen wie diese sprechen sollen, wenn die Minderheit umstandslos vom Hauch der politischen Atemlosigkeit umweht wird.
Der guten Ordnung halber: Mir ist naturgemäß bewusst, dass in der Politikwissenschaft bei Minderheiten nicht nur die Größe festgestellt, sondern auch das Verhältnis zu Macht, politischen Ressourcen, Repräsentation und Partizipation untersucht wird. Eine ergebnisoffene Untersuchung sollte aber selbstverständlich auch ergeben können, dass das ausschlaggebende Merkmal zur Konstituierung einer Minderheit (Blutgruppe AB-) kausal nicht zu einer Schieflage der Unterdrückung führt oder auch gar keine Korrelation aufweist bzw. für das einzelne Individuum nicht relevant ist. In der Praxis wiederum führt Minderheitenpolitik naturgemäß zu Diskussionen über Gleichheit, Gerechtigkeit und Schutz vor Diskriminierung, weil es ja zweifelsfrei benachteiligte Gruppen gibt, über die wir auch sprechen. Zu den nicht benachteiligten Minderheiten (Blutgruppe AB-) gibt es in der Regel keinen Diskussionsbedarf.
Voraussetzung für diese Diskurse ist aber die Kategorisierung von Menschen nach gewissen Merkmalen und diese Einteilung kann vorzüglich als Abzweigung für differenzialistische Anliegen missbraucht werden.
Werden religiöse Minderheiten benachteiligt?
Religionsgesellschaften wissen die unterschiedliche Tönung des Minderheitenbegriffs zu ihrem Vorteil zu nützen. Einerseits wird praktisch jede Glaubensgemeinschaft an irgendeinem Ort benachteiligt und kann damit immer auch eine wahre Geschichte der Unterdrückung erzählen. Das lassen wir gelten und vergessen wir auch nicht. Und andererseits führt der Minderheitenstatus zu einer Wahrnehmung in der Gesellschaft, der irgendwie problembehaftet klingt – nicht ohne Grund. wie auch die Definition der BPB belegt.
Der Schleier der Unterdrückung legt sich dann umstandslos wie ein Niqab über die jeweilige religiöse Gruppierung, bevor noch jemand genauer hinsehen konnte. Aber wie ist die Lage in Österreich tatsächlich? Sehen wir uns die Fakten zur organisierten Religion an:
In Österreich gibt es mit dem Katholizismus nur eine Mehrheitsreligion, alle anderen (inkl. evangelisch AB) liegen im einstelligen Prozentbereich der Bevölkerung. Die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft im Land (wie auch weltweit) ist der Islam, der wie alle anderen anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften (inklusive ihrer Anhängerinnen und Anhänger) gesetzlich nicht diskriminiert oder gar unterdrückt, sondern gefördert und bevorzugt wird. Und nicht erst seit gestern, sondern seit dem Einkrafttreten des Islamgesetz von 1912. Muslime sind in Österreich keine Minorität, die in irgendeiner Form gesetzlich benachteiligt wird, sondern zählen zu den weltanschaulich Privilegierten.
Das hindert freilich die IGGÖ (Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich) nicht, sich selbst als benachteiligte Minderheit (um im Duktus der BPP zu bleiben) darzustellen, wie unlängst in einer Aussendung nach einem „Austausch mit dem Generaldirektor des ORF“. Dieses Framing über einen negativ behafteten Minderheitenbegriffs zieht sich durch Politik und Medien durch und wird von der organisierten Religion für identitätspolitisches Anspruchsdenken (Repräsentation) genützt.
Nicht jeder Christian ist auch ein Christ
Die nüchterne Feststellung, dass in Österreich weder der Islam noch Muslime und auch keine andere anerkannte Religionsgesellschaft und ihre Anhängerinnen irgendwie kraft ihrer Religion benachteiligt werden, sondern sogar Privilegien genießen dürfen, bedeutet naturgemäß nicht, dass es nicht zu anderen gesellschaftlichen Diskriminierungen kommen kann, die mit Religion korrelieren. Aber ergeben sich die aus der tatsächlichen Mitgliedschaft in einer Religionsgesellschaft oder dem persönlichen Glauben?
Ein Beispiel: Mohammed A. ist Atheist und bekommt die ersehnte Mietwohnung nicht, weil sich die Vermieterin, was er natürlich nicht weiß, am Namen stößt, stattdessen kommt Alex A., die Muslima ist, zum Zug. Wurde nun die tatsächliche Religion der Person in die Entscheidung eingewichtet? Nein und sie wird in solchen Fällen auch nicht abgefragt. Bevor die Religion an die Reihe kommt, sind andere Merkmale ausschlaggebend. Woran ein Mensch glaubt oder nicht glaubt, ist im Regelfall nicht sichtbar. Was sichtbar ist, sind Name, Hautfarbe und Verhalten, das kulturell geprägt ist. Viele Benachteiligungen im Leben sind unfair und sie müssen auch nicht einfach hingenommen werden, aber sie ergeben sich nicht aus der vermeintlichen Benachteiligung einer religiösen Minderheit, sondern aus anderen kulturbezogenen Stereotypen.
Konfessionsfreie werden benachteiligt
Wäre es tatsächlich belastend, Teil einer benachteiligten religiösen Minderheit zu sein, ließe sich das ja mit einem Religionsaustritt leicht beheben. Das ist natürlich keine Empfehlung - in einer liberalen Demokratie sollen Glauben-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit diskriminierungsfrei ausgelebt werden können –, aber es ist eine theoretische Möglichkeit. Bei nicht selbst gewählten Kategorien wie der Hautfarbe oder sexueller Orientierung ist das Ablegen des entsprechenden Merkmals nicht möglich.
Die vermeintlichen Benachteiligungen verschwinden mit dem Verlassen einer religiösen Minderheit für die Ungläubigen freilich nicht, im Gegenteil, sie werden auf einmal real. Die Konfessionsfreien – immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung – sind tatsächlich diskriminiert. Sie zahlen mehr Steuern, den Religionsunterricht für die Kinder der Konfessionierten, direkte Subventionen an die Religionsgesellschaften und vieles mehr. Der Zugang zur Rechtspersönlichkeit der Körperschaft öffentlichen Rechts wäre ihnen auch als Organisation verwehrt. Ein Wunsch nach Repräsentation in Institutionen oder Unternehmen wäre genauso absurd wie utopisch, sie würden ja nicht einmal zum Kaffee beim Generaldirektor des ORF eingeladen.
Trotz tatsächlicher gesetzlicher Schlechterstellung hört man sehr selten von einer konfessionsfreien Minderheit, und schon gar nicht mit den Begleittönen der Diskriminierung und Benachteiligung als Bevölkerungsgruppe.
PS: Coleman Hughes „The End of Race Politics”
Während der Fertigstellung dieses Textes hörte ich Coleman Hughes‘ Buch „The End of Race Politics: Arguments for a Colorblind America“. Der Autor argumentiert für eine Gesetzgebung, die keine Rücksicht auf Rasse (bewusst als soziokultureller Begriff gewählt, der ethnische Herkunft und äußere Merkmale integriert) nimmt, sondern „farbenblind“ im ursprünglich politischen Sinn ist – ein Begriff der als Metapher die Verschiedenheit der Menschen nicht ignoriert. Es gibt keine treffsichere Form der Bevorzugung von Gruppen, die nicht für einzelne Individuen diskriminierend wäre und in diesem Sinne genauso rassistisch wirkt, was sie ja – wenn gut gemeint – eigentlich vermeiden will. Die Parallelen in der gesetzlichen Behandlung von Rasse, wie von Hughes beschrieben, und Religion sind unübersehbar: der Staat diskriminiert und privilegiert.
Übertragen wir Hughes‘ Forderung nach Farbenblindenheit auf das Verhältnis von Staat und Weltanschauung, bemerken wir, dass dieses Konzept in der modernen liberalen demokratischen Republik gegenüber der individuellen ideologischen Färbung bereits einen Namen hat: Laizität.
Das bedeutet: Der Staat möge in seinen Gesetzen farbenblind sein. Ein Anspruch, der auf Geschlecht, sexuelle Orientierung, Herkunft, Weltanschauung u. v. m. auch zutreffen sollte. Dabei soll er aber vergangenes Unrecht nicht überkompensieren. Es gibt keine Forderung von Konfessionsfreien ihrerseits Ausgleichszahlungen für die steuerliche Absetzbarkeit des Kirchenbeitrags zu erhalten oder die nächsten 200 Jahre atheistischen Weltanschauungsunterricht statt Religion in den Schulen zu lehren. So wollen nur eines: Gleiches Recht für alle.
4. April: Lesung und Diskussion mit Helmut Ortner
Helmut Ortner liest aus seinem neuen Buch „Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist“
Die anschließende Diskussion moderiere ich.
4. April 2024
Depot Wien, Breite Gasse 3
18.30 Einlass, 19.00 Beginn
Eintritt frei
Gratis-Getränk bei Anmeldung unter event@materie.at
Ich stimme weitgehend zu. Allerdings kann man bei Muslimen durchaus von einer politischen Diskriminierung sprechen. Die manifestiert sich etwa darin, dass es eine Beobachtungsstelle für den politischen Islam gibt - deren Besetzung ist unter Experten gelinde gesagt umstritten. Vergleichbare Beobachtungsstellen für existierende christlich-fundamentalistische Organisationen gibt es nicht.
Dass die Mitglieder mancher Religionsgemeinschaften - allen voran Muslime und Juden - gesellschaftlich diskriminiert werden, wissen wir eh alle. Hier zeigt sich in den vergangenen Monaten nebenbei auch, dass Pseudodialektik von Unterdrückern und Unterdrückten sehr problematisch ist. Hier sind es eben auch viele - beileibe nicht alle - Muslime, die offen Juden diskriminieren, während Muslime gleichzeitig selbst sehr häufig Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Man kann also als Angehöriger einer gesellschaftlichen Gruppe Opfer und Täter zugleich sein - was in der Identitätspolitik einfach nicht vorgesehen ist.
Beim fiktiven Fall von Mohammed widerspreche ich deutlich. Selbstverständlich diskriminiert ihn die Vermieterin religiös. Nicht aufgrund seiner realen Religionszugehörigkeit sondern aufgrund seiner vermuteten. Er wird also sogar sehr explizit als Muslim diskriminiert, der er nicht einmal ist. Interessant wäre, ob er bei einer Gleichbehandlungsstelle irgendeine Chance auf Unterstützung hätte. Wenn nein, würde er gleich doppelt diskriminiert. Als Putativ-Muslim und als Real-Atheist.