Kill Yr. Idols: Rapid und das religiöse Stockholmsyndrom
Newsletter Nr. 84 – Manfred Deix, Emokratie, Christ-Core, Helmut Ortner
Kill Yr. Idols
An meinem sechsten Geburtstag – wenige Tage vor meinem Eintritt in die Volksschule – hat mich mein damals bester Freund Bernhard, der noch immer ein Jahr älter ist als ich, auf drohende Ungemach mit älteren Buben in den Pausen wie folgt vorbereitet: „Wenn sie dich fragen ‚Austria oder Rapid‘, dann sagst du Rapid.“ Damit ist mein Eintritt in die Religion Rapid erfolgt – sehr zum Ärger meines Großvaters, der davor jede Chance verpasst hatte, mich zum Austrianer zu taufen.
Mein so erworbenes Glaubensbekenntnis sollte noch lange bestehen. In meiner Geldbörse trug ich sogar eine Zeit lang ein Bild von Trifon Iwanow mit mir, aber nur weil ich die Frisur bemerkens- aber keinesfalls nachahmenswert fand. Irgendwann hatte ich dann zur Konfirmation des viele Jahre früher unreflektiert erfolgten Eintritts in die Gemeinschaft der Rapid ein Mitgliedsformular unterschrieben. Und irgendwo in der Mauer des Hanappi-Stadions ist auch mein Name eingeritzt worden, weil ich den Verein bei einer Crowdfunding-Kampagne unterstützt hatte. Heute würde ich eher höflich darum bitten, diese Markierung zu schleifen.
Ausgetreten bin ich aus dem Verein, als Rapid im neuen Stadion eine Kapelle einweihen ließ. Die Trennung von Sport und Religion ist mir zwar nicht so wichtig wie die Trennung von Republik und Religion, aber ich brauch echt keinen Pfaffen, der die Schusswaffen der Spieler segnet. Da vertraue ich wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Ingenieurkunst von Adidas, Puma, Nike und anderer Stollenschuhfabrikanten mehr. Fun fact: Der Rapidseelsorger kommt aus meiner zweiten Heimatgemeinde und ist jetzt Obmann von Stripfing, das mit dem ATSV Weikendorf, in dem ich selbst lang gespielt habe, jahrzehntelang zuverlässig um den vorletzten Platz der zweiten Klasse Marchfeld gekämpft hat.
Apostasie
Unabhängig davon, dass mich Fußball generell kaum mehr interessiert, finde ich Rapid zusehends unsympathischer. Die jüngsten Ausfälligkeiten des Geschäftsführers und einiger Spieler passen in das Bild einer Mannschaft, die sich auch am Platz nicht mehr behaupten kann. Selbst wenn man beim Fußball punktuelle Räudigkeiten noch irgendwie duldet, um sich als Anhänger nicht selbst in kognitiver Dissonanz zu verlieren, muss man ja nicht unbedingt auch noch Mitgliedsbeiträge dafür bezahlen – auch das erinnert an Religion. Missmanagement und eine abstoßende politische Verwicklung sind dem Image eines selbstbewussten Vereins, der das eigentlich nicht nötig haben sollte, außerdem abträglich. Ganz offensichtlich ist es nicht möglich, einen Fußballklub in Wien wirtschaftlich zu führen, ohne Politik inklusive ORF bis AK in irgendwelche Kuratorien oder Beiräte hereinzuholen – manche der Personen zur Packelei, andere zum Behufe einer vermeintlichen Äquidistanz. Genauso wie bei Religion, bin ich auch beim Sport der Meinung, dass er Privatsache sein sollte. Die Verbände und Vereine sollen finanziell unabhängig von Förderungen sein und sich ihre Regeln selbst geben. Es ist mir auch völlig wurscht, ob gedopt wird oder nicht, ob und wie Geschlechter getrennt werden, usw. Und dem Staat sollte das alles auch egal sein. Aber das ist ein anderes Thema.
Zurück zum Thema: Wenn es einem nicht passt, ist es ist wie bei jeder Religionsgesellschaft: man kann einfach austreten. Und das habe ich schon längst getan. Trotzdem schaue ich jede Woche, wie der Verein gespielt hat und freue mich, wenn die Rapid gewonnen hat. Man könnte das getrost als
Religiöses Stockholmsyndrom
bezeichnen. So wie sich bei mir diese frühe und zufällige Bindung zu einem Fußballteam eingestellt hat, erleben das vermutlich viele Menschen mit der Religion.
Sie wurden nie gefragt, ob sie bei einem religiösen Verein dabei sein wollen und schon gar nicht bei welchem. Zumindest ein Elternteil nimmt diese Zuordnung ohne schlechtes Gewissen vor und die Sozialisation in der Glaubensgemeinschaft ihren Lauf. Irgendwann, wenn bei der betroffenen Person das selbstständige Denken so weit entwickelt ist, dass sie sich die Frage stellen kann, ob sie das alles glaubt oder nicht, wird diese Entscheidung – zumindest einmal innerlich – nachgeholt. Das Alter der Firmung oder Konfirmation – plus oder minus ein paar Jahre – entspricht dem nicht zufällig und der Gesetzgeber definiert die Religionsmündigkeit auch mit 14 Jahren. Das passt zusammen.
Manche bleiben dann bei dem Glauben, den die Eltern ausgesucht haben, sehr wenige wechseln ihn und immer mehr Menschen verabschieden sich von dieser Mitgliedschaft zuerst geistig und später auch formal. Sie entscheiden sich für Konfessionsfreiheit. Die katholische Kirche verliert in Österreich jedes Jahr ca. 1% der Bevölkerung – nicht ihrer Mitglieder wohlgemerkt.
Viele können und/oder wollen die kulturelle Prägung als vom Glauben Abgefallene oder immer ungläubig Gewesene, wie es auf mich zutrifft, trotzdem nicht ablegen. Sie bleiben ohne Mitgliedschaft Kulturchristen, Kulturmuslime, Kulturjuden, usw. Gerade im Judentum gibt es durch die leidvolle Geschichte des Holocaust in einer weltweit sehr kleinen Population wenig Widerspruch zwischen Atheismus und traditioneller Verbundenheit. [Siehe dazu etwa “Judentum über die Religion hinaus” (Jerôme Segal, 2017) oder “Jews Don’t Count” (David Baddiel, 2021).]
Diese Bindung zur eigenen Vergangenheit äußert sich darin, ein Fußballergebnis nachzusehen, in Salzwasser getauchtes Karpas zu essen oder zur Wintersonnenwende doch eine Krippe unter die Jahresendtanne zu stellen. Sie stellt eine milde Form des religiösen Stockholmsyndroms dar. Bei manchen Individuen kann sich diese Befangenheit aber auch zu einem garstigen Identitarismus verfestigen, der sich an der Religion orientiert.
Da gibt es zum Beispiel jene, die das christlich-jüdische Erbe gegen Zuwanderung aus muslimischen Ländern verteidigen wollen, ungeachtet dessen, ob sie selbst gläubig sind oder nicht. Sie konnotieren ihre Kultur, die einer offenen Gesellschaft als einen Verdienst der Religion, anstatt sie der Aufklärung zuzuschreiben und weisen sich damit selbst als Geisel eines religiösen Stockholmsyndrom aus.
Westbank-Tribüne
Und dann gibt es andere, die ein Fanverhalten entschuldigen, das jedes Rowdytum, das Fussballplätze hervorbringen können, übersteigt, wie etwa Jubelszenen nach 9/11 oder 10/7 in der arabischen Welt, brennende amerikanische, schwedische oder dänische Fahnen, Pro-Hamas-Kundgebungen bei denen auf Transparenten die Auslöschung Israels gefordert wird und leider vieles mehr. Nota bene: Gemeint sind nicht die Ausführenden, sondern jene, dieses Verhalten gut heißen, entschuldigen oder ihm indifferent gegenüberstehen. Sie sind es, die ihr Bauchgefühl der Solidarität mit vermeintlichen Minderheiten über Evidenzbasiertheit stellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie selbst Anhänger der Religion waren, die sie so vehement verteidigen oder, ob sie Religion nur für etwas halten, dessen Beitrag in der Welt unterm Strich ein guter oder gar willkommener ist. Sie unterliegen in jedem Fall einem religiösen Stockholmsyndrom.
Eines von vielen vielen Beispielen, das sehr gut illustriert, wovon hier die Rede ist, ist ein Gespräch zwischen Sam Harris und dem britischen Politiker Rory Stewart. Harris, in diesem Fall in der Rolle des Religionskritikers, versucht mit Stewart als profundem Kenner der islamischen Welt in zwei Gesprächen zu erörtern, welche Rolle der Islam anlässlich der jüngsten Manifestation seiner aggressiven Spielart in Form der Hamas gegen Israel spielt.
Aber Stewart weicht der Hypothese, dass die Religion des Friedens das Element der Vernichtung in Gedanken, Worten und Werken in sich trägt, immer wieder aus. Die Taktiken dafür sind uns bekannt: Er bringt das Strohmann-Argument, dass der Islam kein Monolith sei, was auch niemand behauptet, und bleibt gleichzeitig die Erklärung dafür schuldig, wie die Grenzziehung für Außenstehende nachvollziehbar sein soll. Vergleiche mit der erfolgten Bändigung des Christentums im säkularen Staat, quittiert er mit den Kreuzzügen. Dass die Ansprüche des sogenannten moderaten Islam in liberalen Demokratien mit ganz undemokratischen Forderungen einhergehen und kulturell hinter die Errungenschaften eine offenen Gesellschaft zurücktreten, bis hin zu Einschüchterungen, ignoriert er einfach: Es gäbe hier kein Problem.
Der beste Beweis dafür: Nicht einmal der großartige und furchtlose Manfred Deix traute sich Mohammed zu zeichnen. Auf die Frage der Wiener Regionalzeitung Falter: „Heute sind Muslime in aller Welt gekränkt, wenn Karikaturisten Mohammed zeichnen. Wie würden Sie den Propheten zeichnen?“ antwortete Deix: „Gar ned. Ich bin ja nicht lebensmüde.” Er hatte Angst vor dem Islam. Deix war also islamophob.
Wir haben nicht nur mit jeder Form der Religion ein Problem, die die Welt hinter den Standard der Aufklärung zurückwerfen will – das ist natürlich nicht nur auf den Islam beschränkt, sondern andere genauso, die Politik bestimmen wollen –, sondern vor allem auch mit jenen, die vom religiösen Stockholmsyndrom benebelt sind. Sie machen sich zu Erfüllungsgehilfen von intoleranten und überwunden geglaubten Ideologien.
PS: Der Titel dieses Beitrags ist von Sonic Youth ausgeborgt, die gerade ein Bootleg mit dem Titel “Walls Have Ears” aus 1986 veröffentlicht haben, auf dem sich auch der Track “Kill Yr. Idols” befindet.
Emokratie: Christ-Core
Die Dame und die Herren von der gleichnamigen Radiosendung Emokratie haben mich gefragt, ob ich denn nicht eine Sendung mit dem Thema "Christ-Core” hosten will.
Da meine Heilige Begeisterung für die Transsubstantiation in den Corpus Christi bekanntermaßen keine Grenzen kennt, habe ich "plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune” (1. Korinther 15:52) zugesagt und eine Playlist produziert, die alles Übernatürliche sprengt.
Hört die Sendung auf Res Radio.
Meine Playlist gibt es auch auf Spotify, außer diesen einen Track von VÖEST. Aus Gründen.
4. April: Lesung und Diskussion mit Helmut Ortner
Helmut Ortner liest aus seinem neuen Buch „Das klerikale Kartell. Warum die Trennung von Kirche und Staat überfällig ist“
Die anschließende Diskussion moderiere ich.
4. April 2024
Depot Wien, Breite Gasse 3
18.30 Einlass, 19.00 Beginn
Eintritt frei
Gratis-Getränk bei Anmeldung unter event@materie.at